Medizinische Qualitätsindikatoren

Polymedikation in der Alterspflege

Interview mit Michael Jäger, Leitender Arzt im Serata

Als Gründer und Ärztlicher Leiter der Age Medical AG wirkt der studierte Humanmediziner und Facharzt für Allge­meine Medizin und Geriatrie, Dr. med. Michael Jäger, als Heimarzt im Serata. Zusammen mit seinen Kollegin­nen und Kollegen von Age Medical betreut er verschiedene Altersheime im Kanton und hat dadurch auch gute Ver­gleichs­möglichkeiten. Im Interview äussert er sich zur Statistik des Bundesamtes für Gesundheit (BAG) «Medizinische Qualitätsindikatoren» im Bereich der Pflegeheime, allen voran zum Thema «Polymedikation».

Michael Jäger, Heime werden in der öffentlich zugänglichen Publikation des Bundes nach 6 Qualitätsindikatoren beurteilt: Polymedikation, Mangelernährung, Bewegungseinschränkende Massnahmen (2 Indikatoren) und Schmer­zen (2 Indikatoren). Das gesamte Werk umfasst 1374 Seiten. Das macht es für Laien schwierig, die Indi­kato­ren zu interpretieren. Wie wichtig ist die Statistik für das Serata oder anders gefragt wozu nutzen Sie die Publikation?
Der Bund wollte ein Instrument schaffen, damit sich die Heime selber überprüfen können und um Diskussionen zu initiieren, aber auch um eine Vergleichbarkeit zu schaffen. Die Beurteilung der Qualitätsindikatoren ist nicht ein­fach, denn die Zahlen sind unter anderem abhängig von der Datenqualität der Heime und der Klientel. Ein Heim mit weitgehend selbständigen Bewohnenden hat natürlich eine andere Ausgangslage wie Heime wie das Serata mit Schwerstpflegebedürftigen und einer ganzen Abteilung für Demenzkranke. Man muss die Thematik verstehen, um die Daten zu interpretieren. Deshalb ist es wichtig, dass die Heime zu den Daten Stellung beziehen können. 

Als Heimarzt sind Sie verantwortlich für verschiedene Aspekte wie Hygiene, Medikamentenmanagement, ärztliche Versorgung und Behandlungsqualität. Welche Strategien verfolgt das Serata grundsätzlich, um eine hohe Qualität der Pflege und Betreuung sicherzustellen?
Ich schätze die Zusammenarbeit mit dem Serata sehr, weil hier Qualität an oberster Stelle steht. Die Verant­wort­lichen haben bereits verschiedene Massnahmen eingeführt, um die Qualität immer zu verbessern. Unter anderem wurden Pflegeexpertinnen angestellt, die mit den Teams die fachliche Qualität sicherstellen und man investiert in Projekte, um die Behandlungsqualität zu steigern. Zum Beispiel haben wir zu Beginn unserer Zusammenarbeit 2019 ein Eintritts-Assessment eingeführt. Dieses enthält eine geriatrische Beurteilung, einen langfristigen Be­handlungs­plan, Advance-Care-Planning genannt, und auch die Ziele des Bewohners bzw. der Bewohnerin werden festgehalten. Ein solches Assessment – auch wenn von der Akademie der medizinischen Wissenschaft gefordert – ist in der Branche aussergewöhnlich und wegweisend für die Erhöhung der Behandlungsqualität.

Aus der Statistik des Bundes geht hervor, dass über alle Institutionen hinweg beim Thema Polymedikation das grösste Handlungspotential liegt. Was versteht man genau unter diesem Fachbegriff?
Der Indikator «Polymedikation» wird vom BAG definiert als «9 Wirkstoffe oder mehr pro Woche». Einfach aus­gedrückt handelt es sich um die Ansammlung von Medikamenten, die Betroffene einnehmen. Generell muss man sagen, dass die Polypharmazie mit dem Alter und den Alterskrankheiten natürlich ansteigt. Das erklärt, warum in Altersheimen naturgemäss der höchste Anteil an Menschen mit Polymedikation vertreten ist. Das Thema Poly­pharmazie ist vor allem auch in den Medien oft negativ behaftet. Dabei vergisst man, dass die Fortschritte in der medizinischen Versorgung unsere Lebenserwartung erhöht haben. Trotzdem muss man natürlich immer gut über­legen, ob alle Medikamente, die sich angesammelt haben, zum aktuellen Zeitpunkt noch nötig und sinnvoll oder ob sie sogar schädlich sind.

Wie geht man im Serata konkret mit dem Thema Polymedikation um?
Generell ist es wichtig zu verstehen, dass der Hausarzt und nicht das Pflegeheim die Medikamente verschreibt. Die Heime können also die Polymedikation nur bedingt beeinflussen. Deshalb sind zusätzliche Qualitätsindikatoren in Erarbeitung, welche die bisherigen ergänzen sollen. Beim Thema Polymedikation wird die Verantwortlichkeit der Hausärzte künftig ebenfalls abgebildet. Dies soll in Form von sogenannten «Medikamenten-Reviews» geschehen. Man erwartet also, dass man in Pflegeinstitutionen einmal pro Jahr Medikamentenlisten interprofessionell analy­siert und bespricht. Dieses Instrument finden wir so wertvoll, dass wir es im Serata dieses Jahr bereits eingeführt haben und abteilungsweise 6 Medikamenten-Reviews durchführen. Zu dieser interdisziplinären Gruppe gehören die Pflegeexertinnen, eine Pharmakologin, die zuständige Abteilungsleitung und ich als Altersmediziner. Gemeinsamen besprechen wir die Medikamentenlisten der Bewohnenden aus den verschiedenen Perspektiven. Aus pflegerischer Sicht zum Beispiel, ob die Bewohnenden die Tabletten schlucken können, wie es um die Schmerzen steht, ob Nebenwirkungen auftreten und so weiter. Pharmakologisch wird beurteilt, ob Interaktionspotential zwischen Medikamenten besteht oder ob es ein Generikum gibt, das weniger Kosten verursacht. Aus alters­medizinischer Sicht wird zum Beispiel beurteilt, welche Medikamente bei älteren Menschen nicht mehr sinnvoll sind, wo Dosisanpassungen nötig wären oder bessere Alternativen zur Verfügung stehen. Auch wird beurteilt, welche Medikamente am ehesten weggelassen werden können, ohne dass dadurch ein Schaden entsteht. Am Schluss erstelle ich einen Bericht für den Hausarzt mit unseren Empfehlungen. Die Hausärzt:innen müssen dann entscheiden, welche der vorgeschlagenen Massnahmen sie bei ihren Patienten umsetzen wollen. Die bisherigen Erfahrungen mit den Medikamenten-Reviews sind äusserst positiv. Die ärztlichen Kolleginnen und Kollegen sind überwiegend sehr dankbar für die sinnvollen Vorschläge. 

Welcher neue Qualitätsindikator wird sonst noch diskutiert?
Ein weiterer Qualitätsindikator soll «Advance-Care-Planning» sein, also die gesundheitliche Vorausplanung. Advance-Care-Planning geht über die Patientenverfügung hinaus. Uns Altersmedizinern ist es wichtig zu wissen und zu respektieren, welche Massnahmen die Bewohnenden noch durchführen lassen möchten, ob sie sich bei Bedarf beispielsweise noch in Spitalpflege begeben wollen oder nicht. Es geht auch ums Thema Lebensende, um generelle Haltungen und Werte. Diese Themen kommen eigentlich aus dem Bereich der Palliativmedizin. Auch aus diesem Bereich werden in der Langzeitpflege immer mehr Kompetenzen von den betreuenden Ärzten verlangt werden. Wie anfangs erwähnt, haben wir im Serata Advance-Care-Planning mit dem Eintritts-Assessment bereits 2019 eingeführt.

Links zum Thema
Publikation des BAG «Medizinische Qualitätsindikatoren»
Age Medical

Medizinische Qualitätsindikatoren

Polymedikation:
Prozentualer Anteil an Bewohnern, die in den letzten 7 Tagen 9 und mehr Wirkstoffe einnahmen. 

Mangelernährung:
Prozentualer Anteil an Bewohnern mit einem Gewichtsverlust von 5% und mehr in den letzten 30 Tagen oder 10% und mehr in den letzten 180 Tagen. 

Bewegungseinschränkende Massnahmen:
Prozentualer Anteil an Bewohnern mit täglicher Fixierung des Rumpfs oder mit Sitzgelegenheit, die die Bewohner am Aufstehen hindern, in den letzten 7 Tagen.
Prozentualer Anteil an Bewohnern mit täglichem Gebrauch von Bettgittern und anderen Einrichtungen an allen offenen Seiten des Bettes, welche die Bewohner am selbstständigen Verlassen des Betts hindern, in den letzten 7 Tagen. 

Schmerzen:
Prozentualer Anteil an Bewohnern, die in den letzten 7 Tagen täglich mässige und mehr Schmerzen oder nicht täglich sehr starke Schmerzen angaben (Selbsteinschätzung).
Prozentualer Anteil an Bewohnern, die in den letzten 7 Tagen täglich mässige und mehr Schmerzen oder nicht täglich sehr starke Schmerzen hatten (Fremdeinschätzung).

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